Date: 03.06.03
Author: Ullrich Maurer
Publication: www.gaesteliste.de
Headline: Interview: Tegan and Sara
Ehrlich und widerwärtig

Das Bild, das man sich von eineiigen Zwillingen macht - also Leute, die absolut identisch aussehen, stets das Gleiche denken, tun und sagen und womöglich noch gleich gekleidet sind - trifft auf die kanadischen Schwestern Tegan And Sara nicht unbedingt zu. Gut - sie sind beide gleich groß (oder klein: Am liebsten möchte man sie sich in die Tasche stecken und mitnehmen) - aber da hört's dann auch schon auf. Optisch unterscheiden sich die Mädels schon alleine durch die verschiedenen Tattoos und Piercings - von Frisuren oder Kleidung wollen wir gar nicht erst sprechen. Tegan redet zum Beispiel - einmal angestoßen - ohne Unterlass, Punkt und Komma, während Sara durchaus geneigt scheint, erst einmal nachzudenken, bevor sie etwas sagt. Wenn überhaupt - d.h.: Wenn sie denn mal dazu kommt - ergänzt sie eher die Gedanken ihrer Schwester, als diese zu paraphrasieren. Auch was das Songwriting betrifft, existiert da wohl dieses Ungleichgewicht zwischen Quantität und Qualität. Gerade diese Spannung aber ist scheinbar ein treibender Motor - denn die Songs auf Tegan And Sara's zweitem Album, "If It Was You", klingen alles andere als uniform und austauschbar.

Die Damen scheinen mit diesem Werk und der perfekten Mischung zwischen musikalischer Offenheit, jugendlichem Drive, Credibility und dem Willen, sich nicht in eine bestimmte Ecke drängen zu lassen der musikalischen Selbstverwirklichung jedenfalls einen großen Schritt näher gekommen zu sein. Und das bedeutet: Bloß weg vom Ruch der sensiblen Folkies, hin zu den lauten, widerwärtigen Rock-Brats, die sie nun mal sein möchten. "Als wir mit der Tour für unser Debüt, 'This Business Of Art' fertig waren", meint Sara, "haben wir uns darauf konzentriert, mit einer Band zu proben und haben dann begonnen 'If It Was You' aufzunehmen." Dazu muss man wissen, dass das erste Album eher mit "Hired Hands" eingespielt wurde. "Ja, das ist wichtig", ergänzt Tegan, "wir spielen jetzt vollzeitmäßig mit einer Band. Sie sind aber trotzdem noch Angestellte. Der Fokus liegt aber auf dem Band-Sound und nicht auf dem Duo-Sound. Wir wollten schließlich in Rock-Clubs spielen. Punk, Pop, Rock - wir sind nicht 'akustischer Folk' - daher kommen unsere Einflüsse nun wirklich nicht. Auf dieser Scheibe haben wir definitiv Vollgas gegeben." Was sagt denn der Pate Neil Young, auf dessen Label Vapor Records Tegan And Sara ja sind, zu dem Album? "Nun ja, zunächst meinte er, er verstehe es nicht", erklärt Sara, "dann hat er es aber ein paar Mal angehört und jetzt gefällt es ihm. Nun, es ist sein Geld, das er in uns investiert, da ist es schon besser, wenn es ihm gefällt." An mangelndem Selbstbewusstsein fehlt es den Damen jedenfalls nicht direkt. Noch mal zurück zu dem Folk-Ding: Akustische Gitarren spielen aber schon noch die Hauptrolle, oder? "Nein, wir haben sogar oft elektrische Gitarre gespielt", widerspricht Sara, "wir spielen natürlich auf allen Songs auch akustische Gitarre, weil wir darauf ja die Songs schreiben, aber live soll es ja schon etwas lauter werden." Neben Neil Young haben die Mädels ja jetzt auch mit den Landsleuten von den New Pornographers angebändelt: John Collins und Dave Carswell von Kanadas erfolgreichster "Glam-Rock Band" produzierten das Album. "Die New Pornographers Scheibe ist eine unserer Lieblings-Scheiben", erklärt Tegan das, "wir hatten ungefähr 80% der Songs geschrieben, als wir uns nach Produzenten umschauten. Ich habe mich ein wenig erkundigt und kam dann auf John und Dave - die auch in Bands namens The Evaporators und The Smugglers spielen. Das sind Bands, die wir wirklich sehr gerne mögen und die wir verehren. Wir wollten Leute, die einen rauheren Sound mögen und die uns helfen konnten, das, was wir machen wollten, zu verwirklichen." Das bringt uns zu einem interessanten Thema: Als Gaesteliste.de weiland mit Carl Newman von den Pornographers sprach und die obligatorische Frage kam, ob es so etwas wie einen typisch kanadischen Sound gäbe, wurde das strikt geleugnet. Während viele Kanadier erzählen, sie seien tief von der Schönheit der Landschaft beeinflusst. Wie sehen Tegan And Sara denn das? "Ich denke schon, dass es einen kanadischen Sound gibt", überlegt Tegan, während Sara eifrig nickt, "ich denke schon, dass es niemanden überrascht, dass wir aus Kanada kommen - auch wenn ich nicht genau definieren könnte, was es ist." Und was ist mit der Landschaft? "Wir haben die Scheibe auf einer Insel bei Vancouver aufgenommen", erzählt Tegan, "das war unglaublich schön. Wir waren alle angetan. John und Dave sind beides große Kerle. Irgendwann haben sie mich mal auf dem Deck ausgesperrt. Es gab da Seeadler - die praktisch so groß sind wie ich. Sie riefen mir dann zu: 'Paß auf, sonst wirst du von ihnen davongetragen'. Das war sehr spannend. Ich kann dir sagen: Wenn du in der Wildnis sitzt und da aufnimmst, ist das schon sehr inspirierend. Es spielt keine Rolle, in welcher kanadischen Stadt du bist: Du bist immer in der Nähe der Wildnis - Ozean, Berge, Wälder - was immer. Das kann auch irgendwie einsam sein. Ich finde, dass viele kanadische Künstler traurig und einsam klingen. Das kommt von sowas, dann wirst du introvertiert. Die kanadische Landschaft ist aber etwas besonderes. Jede Provinz sieht total anders aus. Du hast Wälder und Prärien und die See. Es ist langweilg, wenn du da lebst, aber wenn du da zum ersten mal hinkommst, gibt's diesen Himmel, den du so noch nie gesehen hast, Gewitterstürme und sowas - das ist schon irgendwie inspirierend. Andererseits ist es auch eine Art von Witz, weil viele kanadische Songwriter langweilig sind. Dann schreiben sie auch noch über die Landschaft und das ist wirklich langweilig. Man muss das abstrakter sehen und die kanadischen Werte als Inspirationsquelle betrachten." Hilft das denn beim Songwriting? "Na klar, in Kanada gibt's z.B. weniger Druck etwa die Scheibe zu schreiben, die dir zum Durchbruch verhilft", erklärt Tegan, "das ist in Kanada eh nicht so wild. Die Musik Szene, in der wir uns bewegen, ist sehr gesund, es gibt jede menge Support und du kannst dein Auskommen in Kanada haben und anderenorts unbekannt sein - obwohl es natürlich große kanadische Stars gibt, die auch international erfolgreich sind. Es gibt also weniger Druck. Ich verspüre jedenfalls keinen Drang, in die Staaten zu ziehen und in L.A. mit den Stars abzuhängen. Ich mag es dort zu leben, wo ich her komme."

Eine Sache, die auf dem neuen Album ins Ohr springt, sind die Harmoniegesänge der Schwestern, die indes... "lass mich raten", greift Tegan ein, "es hätte mehr sein können? Das haben wir jetzt schon öfters gehört. Weißt du was: Wir sehen uns nicht in dieser Tradition der Harmonien singenden Schwesterlein. Wir wollten uns bei dieser Scheibe auf die Songs konzentrieren und waren der Meinung, dass Harmonie-Gesänge davon eher ablenkten. Jetzt, im Nachhinein kann man das natürlich so sehen, dass es zu wenig war. Wer weiß, vielleicht gibt's auf der nächsten Scheibe wieder mehr." Sara beginnt, einen Döner auszupacken, den die Managerin gerade hereingebracht hat. Tegan schaut sich das eine Weile an und meint dann: "Sag mal, findest du das denn nicht unhöflich? Kannst du nicht mal 10 Minuten warten, bevor du mit dem Essen anfängst? Das ist doch wirklich widerwärtig." Wobei wir bei einem weiteren interessanten Punkt wären: Bei unserem ersten Interview verwendete Tegan ungefähr 768 mal den Begriff "Widerwärtig" im Zusammenhang mit Tegan And Sara. Wenn man sich die beiden indes so betrachtet, sich mit ihnen unterhält und auch wenn man sich die Musik anhört, kann man so recht nichts widerwärtiges entdecken. Wie definiert sich denn dieser Begriff im Selbstverständnis von Tegan And Sara? "'Widerwärtig' ist für die meisten Leute ja etwas Negatives", erklärt Sara - die übrigens den Döner nach dem Rüffel wieder eingepackt hat, "ich denke aber schon, dass wir widerwärtig sind. Es ist wohl so etwas wie eine Unsicherheit. Es ist aber so, dass viele von meinen Lieblingsbands wesentlich widerwärtiger sind als wir. Es ist so etwas wie eine Art Entschuldigung: 'Wenn du uns nicht magst, dann liegt das daran, dass wir widerwärtig sind'." "Unsere Definition von 'widerwärtig' ist nicht die, die du im Wörterbuch findest", elaboriert Tegan, "es ist so: Wir haben viel zu sagen, uns ist es aber egal, ob du zuhörst. Es interessiert uns nicht, ob du hier bist oder wohin du gehst... und dann gibt's noch etwas: Songs wie 'I Hear Noises' oder 'Time Running' erscheinen mir widerwärtig. Nicht wörtlich, aber wenn du das Thema und die Stimmung runterbrichst, wo ich dir etwas sehr persönliches erzähle, dass ich nämlich besitzergreifend und überheblich bin, dann ist das schon irgendwie widerwärtig - von mir, dir das zuzumuten. Das ist, als sagte ich damit, dass das okay ist, wenn ich nervig und irritierend und traurig und besitzergreifend und deprimiert bin. Das ist doch widerwärtig, oder? Ich finde das jedenfalls. Und ich bin auch noch stolz drauf. Immerhin geht es dabei ja nur darum, etwas ganz normales, menschliches zu nehmen und es dir zu präsentieren und zu sagen: 'He. Schau mal, was ich gemacht habe, ich habe einen Song darüber geschrieben und bin stolz darauf'. Das ist widerwärtig!" Schön und gut, aber die meisten Songwriter hätten das doch ganz einfach als "ehrlich" bezeichnet - wäre das denn nicht einfacher? "Ja, ja", lacht Sara, "das liegt daran, dass Ehrlichkeit eben zuweilen widerwärtig ist! Da ist aber schon irgendwie hemmungslos. Man gratuliert sich ja normalerweise nicht, wenn man offen und ehrlich ist. Wir tun das aber. Dafür entschuldigen wir uns dann quasi, indem wir uns als widerwärtig bezeichnen." "Wir sind glücklich zu sein, wer wir sind", fügt Tegan noch hinzu, "aber ich beobachte das schon eine ganze Weile: Wir geben auch eine Menge, wir erzählen Geschichten, wir erzählen von uns, unseren Freunden unserer Familie. Du weißt die Namen meiner Großeltern. Meine Mutter hat gerade wieder eine Beziehung begonnen, Sara ist umgezogen - davon erzählen wir. Das ist schon irgendwie hemmungslos - auch wenn du das vielleicht von uns hören möchtest. Es ist schon etwas widerwärtiges dabei, etwas von dir zu erzählen, und es dann zu verkaufen." Nun gut, man ahnt es so langsam: Bei Tegan And Sara geht es zunächst und vor allem um Tegan And Sara. Das ist auch ein interessantes Thema: Wenn Songwriter nur über sich schreiben, laufen sie dann nicht zwangsläufig Gefahr, irgend wann einmal nichts mehr zu sagen zu haben? Wir hätten uns indes denken können, was Tegan auf diese Frage zu antworten hat: "Nein."

Anmerkung: Dieser Artikel enthält stark gekürzte und vereinfachte Original-Zitate. Das Transkript des kompletten Interviews hätte aufgrund der Menge des Geäußerten ungefähr den dreifachen Platz benötigt. Tegan And Sara wollen ab April auf Tour kommen (und sollte das nicht klappen, im Sommer auf Festivals spielen).